Engadin: Lais da Rims & Val d’Uina

Wanderung zum Lajet da Lischana_Lajet da Lischana_2

Ich war schon oft im beschaulichen, 13 Häuser kleinen Sommerdorf S-charl. Mehr oder weniger bewusst. In meiner Kindheit war dies ein beliebter Ort für unsere generationsübergreifenden Familienpicknicks am schattigen Bergbach Aval S-charl. Es wurde spielerisch bisweilen ehrgeizig geprüft, wer am längsten im eiskalten Bergbach sitzen konnte oder gemütlich das abgelegene Tal am hintersten Zipfel der Schweiz erkundet. Diese Reminiszenz setzt sich zu nicht klar auszumachenden Teilen aus eigenen Erinnerungen, Kinderfotos sowie Erzählungen meiner Eltern zusammen.

Diesmal soll das Erkunden der Gegend etwas aktiver und anspruchsvoller ausfallen. Wir wählen einen weiss-blauen Weg hinauf auf die Hochebene, eine bisher unbekannte Route und ein neues Ziel für mich. Picknicks bleiben selbstverständlich im Programm.


Die Route: S-charl – Alp Sesvanna – Fora da l’Aua – Lajet da Lischana – Lais da Rims – Sursass – Val d’Uina – Sur En

 

Der Aufstieg: steil, steinig, blumenreich

Da es wochentags und ausserhalb der Ferienzeit ist, hält sich der Menschenansturm auf unser Ziel in Grenzen. Auf dem Weg kreuzen wir beim Kleiderlassen nach dem ersten Anstieg einzig zwei überaus gesprächige Senioren. Nach einem freundlichen Austausch von Wanderer zu Wanderer ziehen sie zielstrebig vor uns davon. Wir sind zugegebenermassen beeindruckt von ihrem Tempo. Ich lasse mir jedoch Zeit für den stetig anspruchsvoller werdenden Weg; zu oft hat mich mein übermotiviertes Anfangstempo schon eingeholt. Vor allem, wenn der Rucksack für zwei Tage gepackt ist.

Beim verbleibenden Weg in die Höhe geniessen wir komplette Einsamkeit. Nur wir und der sich vor uns auftuende, scheinbar ins Nichts führende Weg. Vorerst führt er noch in weiss-roter Manier auf einer einfachen Naturstrasse neben dem Fluss Aval S-charl durch den schattenspendenden Wald bis zur Alp Sesvanna.

Die normalerweise allgegenwärtigen Kühe scheinen heute woanders zu grasen, die Glocken sind nur dumpf in der Ferne auszumachen. Uns empfangen auf der Alp einzig zwei Pferde. Irgendwie ein untypisches Bild. Aber mir soll’s recht sein. Kühe waren mal meine Lieblingstiere. Die lieblich dunklen Augen und der treue Blick des braunen Viehs hatten es mir schon früh angetan. Niedlich finde ich sie auch heute noch. Beim Wandern, so ganz ohne Sicherheitsabstand und in grosser Anzahl, bereiten sie mir oft mehr Mühe als Freude.

Wir folgen nun dem engeren, steileren und etwas technischerem Weg, der uns zuerst im Zickzack, dann auf dem ausgesetzten Grat in Richtung der eindrücklichen Gipfel von Piz Madlain und Piz d’Immez führt. Die Konversation wird weniger, die Atmung bewusster, die Schritte gezielter.

Es ist einer dieser Wege, auf denen man genau aufpasst, wo man hintritt, anderseits aber nicht aufhören kann, die sich vor einem auftuenden Felsformationen zu bestaunen. Die kurze Genuss- und Verschnaufpausen zahlen sich aus: Auf den Wiesen präsentieren sich immer wieder Edelweiss, direkt am Weg, wir müssen nicht mal danach suchen. Ein kleiner Glücksmoment, diese alpine, symbolträchtige Schönheit endlich mal so zahlreich in ihrem natürlichen Umfeld zu erleben.

WanderungLajetdaLischana_AlpSesvanna_ForadalAua

Wanderung zum Lajet da Lischana_Aussicht Val Sesvanna

Wanderung zum Lajet da Lischana_Weg durch Fora da lAua

Die Aussicht ist so schön, dass wir uns auf dem Grat durch die Fora da l’Aua eine kleine Zwischenverpflegung gönnen. Hinter uns das idyllische Val S-charl, vor uns die imposanten, teils surrealen Felsformationen des Piz d’Immez. Tee, Suppe, Alpkäse und Bünderfleisch geben uns die nötige Energie für die kommende Passage.

Es bleibt überaus steil und wird zunehmend steinig. Der bisher begraste Grat geht in einen steinigen Felsweg über. Hände und Stöcke kommen nun vermehrt zum Einsatz. An den kritischen Stellen gibt es Ketten. Ich nehme diese Stabilitäts-Hilfe dankend an, da es mir schwer fällt meinen Wanderschuhen auf diesem rutschigen Untergrund komplett zu vertrauen. Ob das eher am Schuhwerk oder meinem Kopf liegt? In diesem Moment egal. Schritt für Schritt nähere ich mich der Linie, die die Felswand vom wolkendurchzogenen Himmel über uns trennt.

 

Hoch oben: surreal, hüglig, mondgleich

Die letzten Meter sind immer noch steil, aber die Ketten sind nicht mehr nötig, da wir vom felsigen Gelände nun in eine kiesige Schräge übergehen. Die Körperposition wird wieder vertikal, das Gehen fordert weniger Kraft und Aufmerksamkeit. Angetrieben durch die Neugier werden die Schritte trotz Müdigkeit nochmals schneller.

Ich liebe diesen Moment, wenn man plötzlich über den bisherigen Horizont hinaussieht. Man läuft Stunden auf einen Gipfel zu. Zuerst ist er das Ziel, das man anvisiert, das antreibt und regelrecht anzieht. Das Ziel rückt näher und näher. Fast oben angekommen steigt mit jedem Schritt die Neugier, welche Szenerie sich dahinter eröffnen wird. Das Ziel wandelt sich vom Magnet unserer Aufmerksamkeit plötzlich zum Vorhang vor dem, was auch immer dahinter liegen mag.

Wanderung zum Lajet da Lischana_Erkunden Lais da Rims

Die steilen Felshänge werden plötzlich durch ein hügliges Plateau abgelöst: die surreal anmutende Hochebene Lais da Rims. Flach und hüglig zugleich, bestehend aus nicht enden wollenden kleinen Steinhügeln, umrundet von imposanten Dreitausender. Je länger wir auf der Ebene umherlaufen, merke ich, dass die Steinhügel gar nicht so klein sind, sondern einfach nur weit weg.

Als erstes passieren wir den türkis leuchtenden Lajet da Lischana. Nur schon dafür haben sich die Strapazen des Aufstiegs gelohnt. Danach folgen vereinzelt zahlreiche weitere Seen, die Namensgeber der Seenplatte. Von klein bis gross, von milchig-blau bis tiefschwarz spiegeln sie die Gipfel der Sesvenna Gruppe rund um sie herum. Auch wenn die Seen teils klein sind und die Trockenheit des Sommers Spuren hinterlassen hat, so bilden sie als grösseres Ganzes eine surreale Landschaft. Einerseits karstig, hart und befremdlich, wie von einer anderen Welt. Anderseits sanft, lieblich und magisch. Und ab und an findet man auf einmal wieder ein Edelweiss. Jede noch so kleine Pflanze, die man in dieser Steinwüste findet, überrascht. Und auch hier weit und breit keine anderen Menschen. Einzig ein einsames Schaf läuft uns über den Weg.

Wanderung zum Lajet da Lischana_Lais da Rims

Wanderung zum Lajet da Lischana_Lais da Rims_Edelweiss

Wanderung zum Lajet da Lischana_Lais da Rims_Spiegelung

Wir stehen inmitten dieser surrealen Berglandschaft. Ich sauge sie mit jedem Atemzug auf und fühle mich wie in einer anderen Welt. Kleine Lagebesprechung: hierbleiben oder weitergehen? Wir waren etwas schneller als erwartet. Es ist grad mal zwei Uhr nachmittags, also noch etwas früh um das Nachtlager aufzuschlagen. Wir entscheiden uns, die Hochgegend noch etwas weiter zu durchforsten und uns dann aber auf den Weg hinunter ins Tal zu begeben. Aus einem Zweitages- wird so ein Tagesplan.

 

Der Abstieg: nass, belebt, lang

Kaum haben wir die Hochebene hinter uns gelassen, werden wir vom Regen eingeholt. Die Wolken, die sich eben noch so perfekt in die Mondlandschaft eingebetteten hatten, entladen sich nun in einem heftigen Sommergewitter direkt über uns. Regenjacken anziehen, Blick nach unten und so schnell wie möglich abwärts. Die Tropfen werden immer grösser, fühlbar immer stärker. Der Boden unter unseren Füssen ist übersät von kleinen Eisstücken; es hagelt. Positiv denkend fühlt es sich an wie eine sanfte Ganzkörpermassage. Einer der Momente, in denen ich beim Wandern automatisch leise vor mich her singe.

Von Kopf bis Fuss durchnässt steuern wir auf die von Bergen eingekesselte Weide Sursass zu. Wir sind jedoch nicht alleine. Von allen Himmelsrichtungen strömen die vom Sturm aufgescheuchten Kühe auf einen im Zentrum der Wiese liegenden, scheinbar schutzspendenden Felsbrocken zu. Ein regelrechtes Glockenkonzert tut sich vor uns auf. Zu meiner grossen Freude führt unser Weg mitten durch die bewegte Kuhversammlung. Augen zu und durch.

Wir nähern uns einem Schlund aus schattigen Felswänden und stehen nun bereits am Ende des, respektive für uns Eingang ins Val d’Uina. Dahinter ist jedoch bereits wieder blauer Himmel zu erkennen. Regen und Hagel sind so schnell vorbei, wie sie gekommen sind. Zeit für trockene Kleider. Das Packen für zwei Tage hat sich also doch noch ausgezahlt. Kaum eingetaucht in die in Enge der Schlucht, kommt uns eine Gruppe Mountainbiker entgegen, die ihre Räder über den steinigen Weg hochschieben oder -tragen. An dieser Stelle der Schlucht sind Ausweichmanöver zum Glück problemlos möglich. Die Einsamkeit der letzten Stunden scheint jedoch gebrochen.

Wanderung durch Uinaschlucht_Eingang in die Schlucht

Wanderung durch Uinaschlucht_Aussicht aus der Schlucht

Der von Menschenhand in Felsen geschlagene Weg führt uns durch die bis zu 400 Meter in die Tiefe klaffende Schlucht. Aus dem Schlund unter uns vernehmen wir den tosenden Bergbach. Der Wanderweg ist eng, ausgelegt für eine Person und fast durchgehend mit Geländer und Seilen gesichert. Trotz der Enge und den steil abfallenden Felswänden kommt bei mir nie ein Gefühl von Unwohlsein auf.

Der spektakuläre Weg schlängelt sich der steilen Felswand entlang. Zweimal führt er durch kurze Tunnels, in denen kaum mehr Tageslicht durchkommt. Nach mehreren Kurven eröffnet sich schliesslich der Blick aus der schattigen – und irgendwie leicht beklemmenden – Schlucht auf das dahinterliegende, von der Sonne angeleuchtete, grüne Tal. Wie schnell wir von Sturm und Weltuntergangsstimmung wieder im lieblichen Alpsommer angekommen sind.

Der Weg durch die Schlucht ist mit weniger als einem Kilometer recht kurz, und das Spektakel entsprechend schnell vorbei. Ab der Alp Uina Dadaint erwartet uns auf einer Forststrasse ein recht langer, monotoner Abstieg durch das Uina Tal. Es gibt wenig zu sehen, der Weg ist wenig anspruchsvoll und grösstenteils im Wald. Die gut zwei Stunden kommen mir vor wie eine Ewigkeit. Was wir beim Aufstieg zeitlich überschätzt, scheinen wir nun beim Abstieg unterschätzt zu haben. Allzu gerne würde ich jetzt mit einem der an uns vorbeiziehenden Velofahrern tauschen. Zwischendurch wünsche ich mir, ich sässe jetzt im Zelt oben auf der magischen Hochebene. Hätten wir bloss… und gleichzeitig kann ich es nicht abwarten, zu Hause unter die warme Dusche und ins gemütliche Bett zu kommen.

Die verbleibende Laufzeit von Uina Dadora in Richtung Sur En bietet Raum, den eindrucksvollen Tag Revue passieren zu lassen. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Etappen der Route gegeneinander antreten lasse. Das Val d’Uina stand bei mir seit Ewigkeiten auf der Wander-Wunschliste. Entsprechend spektakulär hatte ich es mir vorgestellt. Vielleicht zu spektakulär. Denn die berühmte Schlucht hat mich nicht annähernd so bewegt, wie das einsame Val S-charl und vor allem die surreal schöne Hochebene.

Ich bin erfüllt von der Vielseitigkeit, Schönheit und Rohheit, die wir in nur einem Tag erlebt haben. Die Route lässt mich müde, aber mit der schönen Erkenntnis zurück, dass es in den Bergen – selbst in einer mir seit Kindheit bestens vertrauten Gegend – noch so viele unbekannte Wege, Ecken und ganze Landschaften zu entdecken und erwandern gibt. Als Sur En endlich in unserem Blickfeld auftaucht, verabschiedet sich langsam auch die Sonne.

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