Bisher war ich in SAC Hütten immer nur ein kurzer Gast zur Zwischenstärkung. Eine Übernachtung in der Lischana Hütte steht aber seit Jahren auf meiner Wanderwunschliste. Die Geschichten meiner Grosseltern von Nächten im Stroh hoch oben über Scuol sind mir im Gedächtnis geblieben. Auf fast jeder Fahrt im Postauto von Scuol nach Sent habe ich seither nach der Hütte inmitten der Engadiner Dolomiten Ausschau gehalten. Meistens konnte ich sie jedoch nur entdecken, wenn die Sonne sich grad in ihren Fenstern spiegelte oder an ihrem Dach reflektierte.
Durch Umbau und Modernisierung hat sich die Hüttenerfahrung zwar sicherlich verändert. Die Begeisterung vergangener Generationen kann ich seit meinem Besuch dennoch bestens nachfühlen.
Die Route: Scuol San Jon – Chamanna Lischana (inkl. Übernachtung) – Aufstieg zum Vorgipfel des Piz Lischana – Lais da Rims – Lajet da Lischana – Fora da l’Aua – Alp Sesvanna – S-charl
Variation: Abstieg von Lais da Rims ins Val d’Uina. Diese Tour habe ich diesen Sommer in umgekehrter Richtung von S-charl gemacht. Meine Bilder und Gedanken dazu sind hier zu finden.
Von Zeitreisen & Tischgesprächen
Nach gut drei Stunden steilem Aufstieg von Scuol San Jon kommt die Lischana Hütte erst kurz vor Ankunft endlich ins Sichtfeld. Seit der Weg uns aus dem Wald raus führte und wir die steilen Felswände neben und über uns im Blick hatten, hielten wir vergeblich Ausschau nach der Hütte. Das Ziel beim schweisstreibenden Aufstieg zu sehen, hätte vermutlich motiviert. Oder doch eher abgeschreckt? Die sich langsam herbstlich färbenden Hänge bieten aber zum Glück immer wieder andere Fixpunkte, die mir kurzzeitig als Ziel dienen und vom scheinbar immer steiler werdenden Weg ablenken.
Oben in der Hütte angekommen, kommt nach dem obligaten „Suure Most“ auf der sonnenverwöhnten Terrasse schnell Lagerstimmung auf: Wir tauschen Wanderschuhe am Eingang gegen Finken ein und suchen im Matratzenlager die besten Plätze nahe am Fenster. Wir werden für das Nachtessen einem Tisch im „Stübli“ zugeteilt und schöpfen unser Essen am Tisch aus überdimensionierten Schüsseln und Pfannen. Gesellschaftsspiele bilden den Ausklang des Abends. Irgendwie wie eine kleine Zeitreise zurück in fast vergessene Schul- und Skilager.
Die 1’000 Höhenmeter in den Beinen, die bodenständige Küche und die entspannte Abendstimmung auf dem „schönsten Balkon“ von Scuol scheinen die Menschen zu verbinden. Jeder redet mit jedem, unaufgeregt, unaufgesetzt und ausnahmsweise mal nicht über die Arbeit. Von Jung bis Alt – der jüngste Gast an diesem Abend war gerade mal vier Jahre – scheinen sich alle bestens zu verstehen. Die Welt ist hier oben in Ordnung.
Erst als wir unter unsere Decken kriechen, kommt wieder Distanz auf. Irgendwie doch recht viele Menschen auf so engem Raum. Doch kaum liege ich eingemummelt im Hüttenschlafsack, fallen mir auch schon die Augen zu.
Von Abendlicht & Steinböcken
Spulen wir die Zeit aber nochmals etwas zurück: Das Licht an diesem Abend ist magisch. Es zieht mich vor dem Nachtessen raus aus der wohligen Wärme der Hütte. Zum Glück, denn beim Umherlaufen auf den grünen Hügeln, die sich hinter der Chamanna Lischana erheben, entdecke ich am gegenüberliegenden Hang eine Steinbock-Kolonie. In der Stille widerhallende Steinschlag-Geräusche haben die scheuen Tiere verraten.
Meine erste Reaktion: Ich zücke meine Kamera. Ich merke jedoch schnell, dass ich mit meinem Objektiv nicht nahe genug rankomme. Meine zweite Reaktion: Ich muss näher ran, um die Steinböcke besser zu sehen. Ich beginne, mich ganz vorsichtig in ihre Richtung zu bewegen. Das gelingt aber nicht ganz, ohne Lärm zu verursachen. Meine dritte Reaktion: Ich will den Moment nicht zerstören. Ich setze mich wieder hin und beobachte die Steinböcke aus der Ferne.
Mich überkommt eine wohlige Ehrfurcht vor diesen majestätischen Tieren und ihrem kargen Lebensraum. Sie bewegen sich nur sehr langsam, sie folgen gemütlich fressend den letzten Sonnenstrahlen. Auch wenn es nur sieben kleine Objekte in der Ferne sind, bin ich wie hypnotisiert. Der Moment wird zur Stunde. Essenszeit in der Hütte, ich muss zurück.
Von Morgensonne & Wolkenmeer
Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und hoffen auf unserem Aufstieg zur Lais da Rims Ebene nochmals auf die Steinböcke zu treffen. Sie sind jedoch scheinbar nicht mehr hier. Dennoch ist der morgendliche Aufstieg wunderschön. Hinter jeder neuen Zwischenhöhe oder grossem Fels versteckt sich die Sonne, kommt wieder hervor, wirft ihr Licht über mit der gewonnenen Höhe neu aufgetauchten Felswände und Steine. Das spätsommerliche Morgenlicht ist sanft, ich kann regelrecht die einzelnen Strahlen ausmachen.
Oben angekommen erstrahlt die ganze Hochebene in der wärmenden Sonne. Die Ebene ist eingekesselt von zahlreichen Dreitausender unterschiedlichster Gesteinsart und Formation. In der Ferne schmiegt sich Bergkette hinter Bergkette. Das uns umrundende Bergpanorama raubt mir auch beim zweiten Mal hier oben fast den Atem.
Das Lichtspiel vom Aufstieg wird von einem Wolkenspiel abgelöst. In den Tälern unter uns schieben sich Wolken in alle Richtungen, ein asynchron tanzendes Wattenmeer. Immer wieder türmen sich Wolken an einem der Dreitausender auf, verändern ihre Form und gehen wie von Geisterhand im stahlblauen Himmel auf. Zeit für eine Pause um den Marschtee und das Spektakel zu geniessen.
Von Grenzen & Gipfelmomenten
Nun stehen wir vor der Entscheidung, ob wir den restlichen Weg zum Piz Lischana noch begehen. Wir sind bereits auf der Kuppe, die vom Piz Lischana herabzieht, auf stolzen 3’044 Metern. Es fehlen weniger als 100 Höhenmeter zum Gipfel. Aber der Weg über den Grat und die Ostflanke sind steil, ausgesetzt und mit ein paar Kletterpartien verbunden.
Ich merke, dass das Niveau für mich etwas zu hoch ist. Ich möchte keine unnötigen Risiken eingehen und muss schweren Herzens meine Grenzen bezüglich Schwindelfreiheit hinnehmen. Ein kleines Stück Lebensschule: Wo liegen die Grenzen zwischen Ehrgeiz und Leichtsinn? Wo zwischen Akzeptanz der eigenen Grenzen und dem Ausloten eben dieser? Für die Gruppe vor uns liegt die Grenze woanders. Für uns liegt sie heute hier. Wir verzichten aufs Weitergehen.
Das gedämpfte Gefühl ist schnell vergessen, als wir Richtung Seen-Plateau weiterlaufen und die Schönheit der Lais da Rims Ebene aufsaugen. Ich habe das Gefühl, dass ich noch etliche Male hier oben sein werde und immer wieder von Neuem überwältigt werde. Diese einmalige Karstlandschaft hat es mir angetan.
Es zieht ein Wind auf, weshalb wir nicht all zu lange am wunderschönen Lajet da Lischana pausieren. Beim steilen Abstieg nach S-charl gibt es dann doch nochmals etwas Abenteuerfeeling. Ich kann mich nicht entscheiden, ob der steile Alpinwanderweg ab- oder wie letztes Mal aufwärts die grössere Herausforderung für mich darstellt. Klar ist einzig, dass mich die unberührte Natur des Fora da l’Aua und Val Sesvanna nicht weniger fasziniert. Eine wunderschöne, einsame Ecke des Unterengadins.